Ich weiss nicht genau was ein Gebet ist – Mary Oliver

Laut William James Desmond, dem irischen Philosophen, ist die Welt voller Wunder, Fülle und Wert. Hier und in unserem aktuellen Podcast haben wir über seinen Ansatz gesprochen – und ein paar Tage zuvor hat mich eine nahe Freundin mit der amerikanischen Dichterin Mary Oliver bekannt gemacht. Ich war und bin fasziniert, wie gut diese Gedichte verschiedene Aspekte von Desmonds Werk zum Ausdruck bringen. Deshalb stellen wir hier drei Gedichte von Mary Oliver vor: Zunächst das vielleicht berühmteste mit den oft zitierten Zeilen: „Sag mir, was hast du vor mit deinem einen wilden, kostbaren Leben?“ (Das ist auch der Titel einer Anthologie ihrer Gedichte, siehe weiter unten).

Wie in William Desmonds Philosophie drückt sich in Mary Olivers Gedichte Staunen aus. „Staunen über den ästhetischen Reichtum der Welt, über unsere eigene geheimnisvolle Tiefe, über die Seltsamkeit, dass es überhaupt etwas gibt“, wie Steven Knepper über Desmond schreibt. Das Sein ist für ihn exzessiv, „überdeterminiert“, ein Konzept, auf das wir später zurückkommen werden. „Leben ist mehr, als wir begreifen können. Das Sein offenbart einen Wert, den wir ihm nicht zugeschrieben haben, einen Wert, der uns berührt, bewegt“ – und das ist es auch, was Mary Oliver zum Ausdruck bringt (es lohnt sich, die Gedichte im Original zu lesen, die verschiedenen Übersetzungen ins Deutsche haben alle ihre Grenzen …)

Der Sommertag

Wer machte die Welt?
Wer machte den Schwan und den Schwarzbären?
Wer machte die Heuschrecke?
Diese Heuschrecke hier meine ich –
die sich selbst aus dem Gras katapultiert hat,
die jetzt Zucker aus meiner Hand frisst,
die ihre Kiefer vor- und zurückschiebt, statt auf und abwärts –
die ringsumher starrt mit ihren riesigen, komplexen Augen.
Jetzt hebt sie ihre blassen Unterarme und wäscht sich gründlich das Gesicht.
Jetzt klappt sie die Flügel auf und gleitet davon.
Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist.
Ich weiß, wie man aufmerksam ist, 
wie man ins Gras fällt, wie man im Gras kniet
wie man müßig und gesegnet ist, wie man durch die
Felder streunt, denn das ist es, was ich den ganzen 
Tag machte. Sag, was hätte ich sonst tun sollen? 
Stirbt nicht alles am Ende und viel zu schnell? 
Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben?

Mary Oliver lädt uns ein, darüber nachzudenken, was wir mit unserem Leben anfangen, ob wir noch Ehrfurcht und Staunen angesichts der Fülle und des Mysteriums der Welt empfinden können. Natürlich mag es in diesen schwierigen Zeiten beinahe befremdlich erscheinen, sich „müßig und gesegnet“ zu fühlen, aber es ist vielleicht umso wichtiger, die Begrenzungen unseres alltäglichen, selbstzentrierten Denkens zu sehen und uns wieder mit den Wundern der Welt zu verbinden – was auch im nächsten Gedicht zum Ausdruck kommt.

Ich gehe zum Strand hinunter

Ich gehe am Morgen zum Strand hinunter,
und je nach Uhrzeit branden die Wellen 
herein oder rollen hinaus, 
und ich sage: Oh, ich Arme
was werde – 
was soll ich nur tun? 
Und das Meer spricht
mit seiner reizenden Stimme:
Entschuldige, ich hab was zu erledigen

Das dritte Gedicht veranschaulicht etwas, das auch Desmond beschreibt: Ein allgegenwärtiges modernes Verständnis des Seins als Ressource, als Gebrauchswert, was andere Werte zweitrangig oder subjektiv erscheinen lässt. Desmond nennt dies das „Ethos der Brauchbarkeit“ und „Wegwerfbarkeit“, wonach „Dinge für uns brauchbar sein müssen, aber sobald sie ihren Zweck erfüllt haben, sind sie entbehrlich.“ Er bemerkt, dass „auch Menschen oft als brauchbare Wegwerfobjekte behandelt werden. Wir können das Sein nur so neutral behandeln, wenn wir es von unserer ursprünglichen Erfahrung abstrahieren. Eine solche Abstraktion beinhaltet einen fragwürdigen Subjekt-Objekt-Dualismus, der unserer grundlegenden Rezeptivität und Empfänglichkeit nicht gerecht wird. Wir sind keine in sich geschlossenen Subjekte, abgeschottet von der Welt „da draußen“. Wir verinnerlichen etwas, anderes wird aus uns herausgeholt. Wir sind, wie Desmond sagt, „durchlässig“. (Zitate von Steven Knepper)

Desmond beschreibt alles Existierende als überbordend und „überdeterminiert“: Das heißt, die Existenz ist mehr, als wir begreifen können, und mehr, als uns bewusst wird, solange wir die Dinge als selbstverständlich hinnehmen. Oder, in Mary Olivers Worten: Eine Blaubeere kann einfach nur eine Blaubeere sein. Oder sie kann „überdeterminiert“ sein, überladen mit Bedeutungen, Assoziationen, Erinnerungen … mehr, als wir „in eine Box packen“ können.

Blaubeeren

Ich lebe jetzt an einem warmen Ort, an dem
man das ganze Jahr über frische Blaubeeren 
kaufen kann. Ohne zu arbeiten. Aus verschiedenen 
Ländern Südamerikas. Sie sind ebenso 
süß wie alle anderen und verglichen mit den 
Beeren, die ich immer auf den Feldern 
in der Umgebung von Provincetown pflückte, sind
sie riesig. Aber Beeren sind Beeren. Sie 
sprechen keine Sprache, die ich nicht
verstünde. Auch finde ich keine Zecken
oder kleine Spinnen, die zwischen ihnen
herumkrabbeln. Somit bin ich, 
alles in allem, sehr zufrieden.

Es gibt jedoch Grenzen. Was sie nicht 
haben, ist das Feld. Das Feld, zu dem sie 
gehörten und zu dem ich gehörte, wie ich 
im Laufe der Jahre allmählich fühlte. Nun ja, 
es gibt das Leben und dann gibt es ein Zuspät. 
Vielleicht vermisse ich ja mich selbst. Das Feld 
und den Spatz, der am Waldrand sang. 
Und die Hirschkuh, die mich eines Morgens 
völlig unerwartet ansah, ganz angespannt 
und prächtig. Sie stampfte mit dem Huf auf, 
wie man es bei jedem Eindringling tun würde. Dann 
sah sie mich lange an, als wollte sie sagen: 
„Okay, du bleibst in deinem Revier, ich bleibe in meinem.“ 
Und das taten wir. Versuch mal, 
das einzupacken, Südamerika.

Mehr über William James Desmond hier im Artikel und hier im Podcast.

Ähnliche Beiträge