Abbondanza – Die Fülle des Lebens

Abbondanza (oder auch Abundantia) war in der römischen Mythologie die Personifikation von Fülle und Wohlstand. Meist hält sie ein Füllhorn im Arm, aus dem Früchte und Blumen hervorquellen, in der anderen Hand Ähren – Symbole des Überflusses. Auch William James Desmond, der irische Philosoph spricht in seinen philosophischen Schriften von der „abundance“ der Welt. Er meint nicht nur die Überfülle in der Natur, sondern eine Welt voller Wunder, die übervoll ist von Leben und Bedeutung: Das Sein ist für ihn mehr, als wir je erfassen oder begreifen können. Und dennoch begrenzen wir unseren Blick im alltäglichen Leben meist auf die Aufgaben, die vor uns liegen, auf das, was zu tun ist, auf das Funktionieren – William Desmond beschreibt dies als existenzielle Dissonanz:

In unserem Leben erfahren wir immer wieder Bedeutsames. Wir verlieben uns, wir erleiden Krankheiten, Unfälle, Kummer; wir bringen Opfer, wir erschaffen Kunst, wir bekommen und erziehen Kinder, wir erleben Verluste, trauern – all das ist für uns bedeutsam. Doch unser erlerntes Weltbild (s. dazu auch unser Artikel über Jeremy Lent) vermittelt uns etwas anderes: In einer veralteten biologischen Sicht sind wir nichts weiter als eine hochentwickelte Spezies, Bewusstsein ist nur eine Begleiterscheinung neuronaler Prozesse. Liebe ist eine neurochemische Illusion, die überdeckt, dass wir von Trieben gesteuert werden. Sinn ist eine Geschichte, die wir uns erzählen, um besser im Leben zurechtzukommen.

Aber wir funktionieren nicht wie Maschinen. Die Trennung zwischen dem Funktionieren einerseits und der Erfahrung von Wert- und Bedeutungsvollem zerreißt uns innerlich. So können uns Momente der Liebe, ein sternenklarer Himmel oder ein neugeborenes Kind zutiefst berühren, während all dies gesellschaftlich nicht gerade als außergewöhnlich gilt. Nicht gerade als Wunder.

Werte und Wunder

Donald Hoffman spricht in Interviews von diesem Paradox: Warum halten wir es eigentlich für selbstverständlich, wenn ein Kind geboren wird; wenn also ein völlig neues, eigenständiges Bewusstsein entsteht und sich entfaltet? Das halten wir für normal und alltäglich, während gleichzeitig die Fortschritte verherrlicht werden, die in der künstlichen Intelligenz gemacht werden – die eigentlich „simulierte Intelligenz“ heißen müsste, da die KI lediglich komplexe Datenabfolgen generiert. Wir erleben das als „intelligent“, weil wir aus den Daten wiederum Sinn herauslesen können. Doch ist das größere Wunder nicht eigentlich das, was jenseits generierter oder reproduzierter Daten liegt?

Wie wenig Raum wir für die tiefsten Erfahrungen des Lebens haben (oder uns nehmen), sieht man auch in Trauerprozessen: Wer einen geliebten Menschen verliert, muss nach kurzer Zeit wieder arbeiten, Aufgaben erfüllen, das „Trauerjahr“, das es früher im kirchlichen Kontext gab, oder das monate- oder jahrelange Tragen schwarzer Kleidung, wie es in früheren Generationen bei Verwitweten üblich war – all diese Rituale sind inzwischen verschwunden. In unserer psychotherapeutischen Arbeit erleben wir immer wieder, dass Trauernde sich auch selbst diesen Druck auferlegen, schnell wieder zu funktionieren, nach kurzer Zeit gibt es kaum noch Möglichkeiten, der eigenen Trauer Raum zu geben, und im Umfeld geht schon bald das Bewusstsein dafür verloren, dass hier ein Mensch gerade einen radikalen Umbruch erlebt, tiefgreifende Lebenserfahrungen macht.

William James Desmond beschreibt Religio (lat. religio, „Rücksicht, Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt“) als die heilige Dimension der Wirklichkeit, nach der wir uns eigentlich sehnen, eine tiefere Form der Einstimmung: die heilige Bindung, die uns mit der Wirklichkeit, mit allem und jedem, in all ihrer Tiefe und Fülle verbindet.

Religio meint also nicht Religion im institutionellen Sinne, sondern in ihrer ursprünglichen Bedeutung: Die verbindende Kraft, die Verbundenheit zwischen Selbst und Welt. Die gelebte Erkenntnis, dass Sinn nicht hergestellt werden kann, sondern uns offenbar wird – wenn wir wieder verbunden sind. Dazu gehört die Verbindung zu anderen – Familie, Freunden, Gemeinschaft – aber auch zur Welt. Wenn wir zum Beispiel in den Nachthimmel blicken und Ehrfurcht empfinden, oder wenn uns ein tiefer Dialog mit einem anderen Menschen berührt und verändert. Und die Beziehung zu uns selbst: die Handlungsfähigkeit (Agency), das Gefühl fortwährender Identität (Selbstsein) und die sich entfaltende Tiefe als moralisches und spirituelles Wesen (Persönlichkeit).

Religio beschreibt das sinnstiftende Gewebe, in dem sich alles stimmig zusammenfügt. Es ermöglicht uns, in einer Welt zu leben, anstatt nur einen Raum zu besetzen.

In diesem Sinne können wir, so William Desmond, die Metaphysik nicht umgehen. Wir alle haben Annahmen über die Natur des Seins und seinen Wert. Wir leben eine implizite Metaphysik – entweder im Sinne der Brauchbarkeit, Verwertbarkeit, „Wegwerfbarkeit“ (s. auch unser Artikel zu Desmond und Mary Oliver) oder im Sinne der religio, der wesentlichen Werte.

„Ich erinnere mich an eine Zeit in Gesellschaft fortschrittlicher Intellektueller, in der die Erwähnung von Gott oder Religion ähnlich war wie die Erwähnung von Sex in einem prüden viktorianischen Salon. Eisiges Schweigen senkte sich herab, und dieses Schweigen verriet mehr, als es Argumente vermocht hätten: Wir sprechen heute nicht mehr über diese Dinge.“

W. J. Desmond 2005

Die Moderne hat die Religion weitgehend vergessen, während sie ihre äußere Hüllen, die organisierte Religion, bewahrt hat. Und da diese institutionellen Formen erodieren oder an Glaubwürdigkeit verlieren, nehmen viele Menschen an, das Heilige sei nicht mehr zugänglich. Doch das ist nicht der Fall.

Wonach sich Menschen sehnen – oft ohne Worte dafür zu haben – ist eine Rückkehr zu dieser verbindenden Tiefe, dem gefühlten Kontakt mit dem Wirklichen und Wertvollen. Für Desmond geht es also nicht darum, Religion im alten Sinne wiederzubeleben, sondern sie neu zu verwirklichen, um uns selbst, einander und die Welt wieder in ihrer tiefen Bedeutung zu erleben.

Menschen waren schon immer Wesen, die Orientierung suchen – und wir brauchen etwas, das über uns selbst hinausgeht, um uns zu orientieren. Etwas, das uns auf einen Weg der Transformation führen kann. Alle spirituellen Bewegungen weisen seit Jahrtausenden darauf hin. Und gerade in Zeiten multipler globaler Krisen ist die Erfahrung von Religio, im Sinne von Verbundenheit und Rückbesinnung, vielleicht wichtiger und wertvoller denn je.

Ehrfurcht und Staunen

Das Besondere an Desmonds Herangehensweise ist, dass er sich im weitesten Sinne mit unserer sinnlichen Erfahrung der Welt beschäftigt. Für ihn beschränkt sich Ästhetik nicht nur auf Kunst oder Literatur, sie beginnt in der „Ästhetik des Geschehens“, im Strom der Sinnlichkeit, der uns ständig durchströmt. Wir sind keine in sich geschlossenen Subjekte, abgeschottet von der Welt „da draußen“ – wir sind, wie Desmond sagt, „durchlässig“.

Wir können die Welt als einen Prozess fortwährender Bedeutungsentfaltung begreifen. So wie wir einen einzelnen Baum erst dann wirklich erfassen, wenn wir ihn in seinen Zusammenhängen sehen: Ein Baum bedeutet Sonne, Licht, Sauerstoff, Kohlendioxid, Wurm, Pilz, Erde, Vögel, Insekten, Wind, Zellen, DNA – es ist ein selbstorganisierender, vernetzter Entstehungsprozess, der sich ständig verändert. Und auch der Mensch wäre keine sinnvolle lebendige Einheit ohne Bäume, da wir ohne sie gar nicht existieren könnten.

Wir sind eingebettet, nicht nur in die Natur, sondern in das gesamte Universum, das die Bedingungen für die Entstehung des Lebens auf diesem Planeten – und möglicherweise auch anderswo in den Galaxien – geschaffen hat. Anstelle nüchterner, vermeintlicher Objektivität weckt dieser Blick auf das Universum Gefühle der Ehrfurcht und Verehrung – sobald wir einen Blick auf das gewaltige Mysterium erhaschen.

„Leben ist mehr, als wir begreifen können“ – die Unerschöpflichkeit des Lebens, die Überfülle und „Überdeterminiertheit“ bezieht sich für Desmond also nicht nur auf das Füllhorn der Abbondanza, die unerschöpflichen Aspekte der Natur und des Lebens, sondern darauf, dass auch das Staunen, die Ehrfurcht und das Erleben von Wundern eigentlich unerschöpflich ist.

„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle“, schrieb Albert Einstein. William Desmond läd uns dazu ein, das geheimnisvolle Wunder des Lebens neu und mit allen Sinnen zu entdecken.

Mehr über William Desmond auch hier: „Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist“ – Mary Oliver.


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