… um Sinn zu erleben. Josef Rabenbauer

Als ich in den achtziger Jahren zum ersten Mal nach Indien kam, wurde ich von einem Kollegen eingeladen. Als ich ihn zum Abendessen besuchte, war ich völlig überrascht: er und seine Familie, zusammen mit den Großeltern sprachen den ganzen Abend über spirituelle Themen, und wie Spiritualität im Alltag gelebt werden kann: für mich ein Kurs in der Kultivierung von Weisheit. Solche Gespräche hatte ich in Deutschland nicht erlebt. In unserer Kultur sprechen wir üblicherweise nicht über Wege zur Kultivierung von Weisheit und über Sinnsuche.
Dies ist sicher auch eine Ursache für die Zunahme von Angststörungen, Depressionen, Verzweiflung und für steigende Suizidraten in Nordamerika, Teilen Europas und anderen Teilen der Welt. Diese Krise ist eng verwoben mit den Krisen in der Umwelt und im politischen System, und mit einer tieferen kulturellen Krise, die John Vervaeke „The Meaning Crisis“ nennt.
Vervaeke, ein Kognitionswissenschaftler und Meditationslehrer von der University of Toronto sagt: „Heute gibt es immer mehr Menschen, die sich sehr von sich selbst, voneinander, von der Welt und von einer lebensfähigen und absehbaren Zukunft abgetrennt fühlen. … Aus diesem Problem herauszukommen, wird ungemein schwierig sein. Es wird bedeutende Veränderungen in unserem Verständnis, unserer Kultur und unseren Gemeinschaften erfordern.“
Die Sinnkrise ist eine Krise der Kultivierung von Weisheit
„Eine Art, über die Sinnkrise zu reflektieren, ist, sie als eine Krise der Weisheitskultivierung zu verstehen. Die Klöster sind verschwunden, die Kommerzialisierung der Schulen verwässert das, was als ‚Bildung‘ gilt, zu bloßer Vorbereitung auf unsichere Arbeitsmärkte; wo können wir also Weisheit finden? Die scheinbar wichtigsten und die mächtigsten Institutionen unserer Welt, die kapitalistische Ökonomie mit Großunternehmen, die Politik, oder Social-Media bieten uns kaum Orientierung in Bezug auf Weisheit und Sinnfindung an.“
Eine Kultivierung von Weisheit bedeutet unter anderem, sich wieder zu verbinden („religio“), mit unseren wesentlichen Werten und unserem essentiellen Wesen – von denen wir in unserer Kultur ziemlich getrennt sind. Wir sind in unserer Gesellschaft darauf getrimmt, zu konsumieren, mehr und mehr zu produzieren, schneller und schneller, und zu konkurrieren. Wir versuchen, unsere verlorene essentielle Natur mit Ersatz zu füllen, indem wir versuchen, das, was wir vermissen, von außen zu bekommen: Wir konsumieren, wir beuten die Erde und die Tiere aus.
Sinn ist keine Sache, die man „haben“ kann, auch keine Information die man konsumieren oder kaufen kann – sondern offenbart sich durch den tiefen Kontakt mit einer erfüllenden Art des Seins – auch und vor allem inmitten unserer Krise. Es bedeutet, in Kontakt zu sein mit Mitgefühl, mit freundlichem, achtsamen Umgang miteinander, mit Wärme, Empathie, Menschlichkeit, Sanftmut, Neugier und Offenheit, Mut, Tatkraft und Handlungsfähigkeit. In der Lage zu sein, wahrhaft nährenden Kontakt zu erkennen und anzubieten.
Können wir diese Qualitäten mehr schätzen als ihre Surrogate wie Geld und Macht? Wenn wir die Wirkung auf unsere Seele erforschen, wissen wir sofort, was mehr Sinn und Bedeutung gibt, was uns tiefer erfüllt. Wir beginnen wieder zu verstehen, dass der Sinn des Lebens nicht nur ein Hilfsmittel zum Überleben ist, sondern für das menschliche Gedeihen und für unser Wohlbefinden wesentlich ist.
Was zunächst widersprüchlich erscheint, ist dann plötzlich vereinbar: ein erfülltes Leben zu leben in einer krisengeschüttelten Welt: wir können dann den Schmerz und die Trauer, die Erschütterung und die Angst genauso erlauben wie die Freude, das Mitgefühl und eine wohlwollende Menschlichkeit.