… darum geht es in unserer heutigen Podcast-Episode. Angesichts der täglichen immer wieder verunsichernden und erschütternden Nachrichten versuchen wir, die Veränderungen zu verstehen und ihnen einen Sinn zu geben.
Um die beunruhigenden gesellschaftlichen Veränderungen, die alarmierenden Entwicklungen in der Politik und das destruktive Verhalten darin besser zu begreifen, helfen uns die neuesten wissenschaftlichen Studien der Hirnforschung und die neuen Erkenntnisse über die unterschiedlichen Funktionen der beiden Hemisphären des Gehirns.

Iain McGilchrist, ein schottischer Hirnforscher, Psychiater und Philosoph, hat in umfangreichen Studien die Funktionen unserer Gehirnhälften untersucht.
Seine brillanten Vorträge und Interviews (er ist auch Literaturwissenschaftler) und sein fast 3000 Seiten umfassendes Buch „The Matter with Things“ offenbaren erstaunliche Forschungsergebnisse und ein tiefes Verständnis unseres Funktionierens in der Welt und unseres sozialen und wirtschaftlichen Verhaltens.
McGilchrist arbeitete heraus, wie unser geteiltes Gehirn, das eigentlich ausgewogen und harmonisch funktioniert, seit einigen hundert Jahren immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät: Wir werden immer mehr von der linken Gehirnhälfte dominiert. Das hat enorme destruktive Auswirkungen auf unser Denken und Handeln, wie wir weiter unten sehen werden.
Aber Iain McGilchrist zeigt auch Wege auf, wie wir zu unserem natürlichen Gleichgewicht zurückfinden können.
Es ist wichtig zu betonen, dass beide Hemisphären bei praktisch jeder menschlichen Aktivität und bei allen mentalen Prozessen und Zuständen eine Rolle spielen. Von der Sprache über Emotionen, Bewegung, Denken, Vorstellungskraft, Kreativität bis zur Logik – alle dies wird durch die Funktion beider Hemisphären prozessiert – idealerweise auf ausgewogene Weise. Damit können wir die Gehirnaktivität beschreiben und erklären – wobei das Bewusstsein selbst natürlich sehr viel mehr ist als nur dieses Zusammenspiel.
Aber was genau bedeutet die Dominanz der linken Hemisphäre und wie ist sie entstanden?
Zuerst müssen wir die unterschiedlichen Funktionen der beiden Hemisphären kennen, wie sie unsere Art, die Welt wahrzunehmen, prägen – und wie sie miteinander verbunden sind und zusammenarbeiten.
Zwei Arten der Aufmerksamkeit
Die unterschiedlichen Arten der Aufmerksamkeit von beiden Hemisphären entstanden aus einem evolutionär wichtigen Grund. Jedes Lebewesen muss diese Aufgabe lösen: Wie kann ich Essen finden und dabei nicht selbst gefressen werden? Das klingt zunächst nicht schwierig, aber: das Lebewesen muss in der Lage sein, etwas anzuvisieren, es mit den Augen zu verfolgen und dabei sehr genau zu erfassen. Dazu muss es also eine sehr enge, fokussierte Aufmerksamkeit haben. Aber wenn das die einzige Art der Aufmerksamkeit wäre, würde es nicht lange überleben. Wenn ein Vogel nur auf die Futtersuche fokussiert wäre, würde er den Raubvogel über sich oder die Katze im Gebüsch nicht bemerken. Und wenn er nur mit der Wachsamkeit beschäftigt wäre, würde er sein Nest nicht wiederfinden und seinen Nachwuchs nicht füttern können. Es sind also zwei Arten von Aufmerksamkeit erforderlich, und diese Arten von Aufmerksamkeit sind so unterschiedlich, dass sie nur durch zwei Hirnbereiche ermöglicht werden können, die sich in ihrer Arbeit ergänzen.
Die linke Hemisphäre hat eine sehr enge Ausrichtung, die auf Details gerichtet ist, um diese sehr genau zu sehen. Sie fixiert es und greift es (und die linke Hemisphäre steuert die rechte Körperhälfte und z.B. die rechte Hand, mit der die meisten von uns überwiegend greifen und arbeiten).
Die rechte Hemisphäre dagegen hat eine breite, offene, anhaltend wachsame Aufmerksamkeit, ohne einen bestimmten Fokus, einengende Präferenzen oder Filter.

Präsenz und Repräsentation
Die Welt der linken Hemisphäre ist, wenn man so will, eine Karte, ein Schema, ein Diagramm, eine Theorie oder eine Repräsentation – etwas Zweidimensionales. Wir haben hier eine Welt, die aus Dingen besteht, welche mechanisch, statisch, analytisch, abstrahiert und isoliert und nutzbringend funktionieren. Und eine andere Welt, die der rechten Hemisphäre, die fließend, komplex und lebendig ist, d.h. sich ständig verändernd, teilnehmend, transformierend, immer neu im Entstehen. Eine Präsenzwelt. Und beide Welten haben ihren Wert.
Man kann sich leicht vorstellen, wie ein von der linken Gehirnhälfte deutlich dominiertes Verhalten und seine Auswirkungen auf unsere Welt aussehen könnten:
Es geht dann vor allem darum, die Welt als etwas zu behandeln, das es zu begreifen, zu manipulieren, zu nutzen und zu kontrollieren gilt, etwas, über das wir Macht ausüben – ohne die Sicht der rechten Gehirnhälfte auf das Ganze, die Verbundenheit von allem, ohne ihre Fähigkeit zum tieferen Verständnis und ohne die umfassenden Konsequenzen unserer Manipulationen ausreichend zur Verfügung zu haben.
Die linke Gehirnhälfte ist von der eigenen Sicht überzeugt, neigt in ihren Urteilen zu Schwarz-Weiß-Denken und zieht voreilige Schlussfolgerungen. Da sie den tierischen Instinkten in uns dient, braucht sie, wenn sie erfolgreich im Überlebenskampf sein will, diese Qualitäten.
Die linke Gehirnhälfte achtet scharf auf Details, sortiert Dinge und organisiert Menschen in nützliche Kategorien, eine große Fähigkeit, solange sie nicht in Ungleichgewicht gerät und die Fähigkeit der rechten Hemisphäre blockiert, Zusammenhänge mit allem und die ganze Gestalt zu sehen, Fähigkeiten, durch die wir Zugang haben zu dem, was wir am meisten schätzen: Verbundenheit, Freundschaft, Liebe; Kreativität, Kunst, Musik und Poesie; Lebensfreude – alles, was ein sinnerfülltes Leben ermöglicht. Die rechte Hemisphäre ist besser darin, die Welt in all ihrer Komplexität zu verstehen; sie neigt zum Sowohl-als-auch-Denken; sie ist reflektierend, intuitiv, organisch, implizit, empathisch, sie besitzt Mitgefühl und Fürsorge.
Wir können leicht erkennen, wie viele Krisen unserer heutigen Welt das Ergebnis der Dominanz der linken Gehirnhälfte sind: die machtorientierte Politik, die gewinnmaximierte Wirtschaft, die Ausbeutung der Umwelt und allen Lebens, um sie nutzbringend ausbeuten zu können – und die fehlende Fähigkeit zur Selbstreflexion oder Einsicht, innezuhalten.
Leider glauben wir heutzutage, dass wir die Probleme unserer Zeit lösen würden, wenn wir nur ein bisschen mehr Macht hätten (was die Domäne der linken Hemisphäre ist: zuzugreifen, etwas zu bekommen) – wenn wir nur ein bisschen mehr manipulieren könnten. Aber gleichzeitig richten wir in vielerlei Hinsicht ein heilloses Chaos in der Welt an. Wir zerstören die Natur, wir zerstören die Menschheit. Wir zerstören ganz sicher diese Zivilisation. Wir gehen sozusagen mit Vorschlaghammer darauf los. Und das ist ein sehr trauriges Ergebnis für linke Hemisphäre, die ja alles zu wissen glaubt.“ – McGilchrist
Die Lösung wird also Teil des Problems! „Wir leben bereits in einer Simulation. Unser Fokus liegt auf Sicherheit, Macht und Kontrolle, Herrschaft – und doch haben wir uns noch nie so getrennt gefühlt. Wenn die linke Gehirnhälfte eine Welt erfinden könnte, würde sie sicherlich ungefähr so wie unsere heutige Welt aussehen.“
Einstein sagte, der rationale Verstand sei ein treuer Diener, der intuitive Verstand jedoch ein kostbares Geschenk. Und wir leben in einer Welt, die den Diener ehrt, aber das Geschenk vergessen hat. Wir brauchen zwar beide Hemisphären, aber die rechte Hemisphäre sollte der Meister und die linke ihr Diener sein, wie McGilchrist in seinem Buch schreibt: „The Master and His Emissary: The Divided Brain and the Making of the Western World.“
Wie sind wir hierhin gekommen?
Es gibt mehrere Gründe, warum die linke Hemisphäre dominanter geworden ist. Ein schlichter Grund ist, dass sie diejenige ist, die uns reich macht. Sie ist diejenige, mit der wir greifen und bekommen, herrschen und überwältigen. Technologie ist eine bestimmende Kraft in unserer Welt und es geht dabei viel darum, Prozesse und die Natur zu beherrschen. Zusammen mit der Wissenschaft ist sie die treibende Kraft unserer Zeit. Sie hat uns so große Innovationen und so viel Komfort ermöglicht, wir setzen sie aber auch ohne Rücksicht auf die Gesamtauswirkungen ein.
Unsere technologische Welt bedingt eine unverhältnismäßig häufige Inanspruchnahme der linken Gehirnhälfte durch die digitalisierte, „repräsentative“ Welt. Die rechte Gehirnhälfte hat viel weniger Gelegenheit sich in der analogen, Präsenz-Welt zu verbinden und einfühlsame Beziehungen zu gestalten.
Diese digitalisierte Umgebung, insbesondere die Medientechnologie, hat neben ihren großen Errungenschaften auch eine destruktive Wirkung auf die gemeinsame und individuelle Sinngebung. Das Ausmaß, in dem dies stattfindet, ist in der Geschichte der Welt beispiellos.
Und die Wissenschaft hat sich überwiegend auf analytische Wissenschaft reduziert – das heißt, sie zerlegt Dinge in ihre Einzelteile und untersucht nur das, was gemessen werden kann, und vernachlässigt das Ganze, die Gestalt, den lebenden Organismus oder das gesamte Ökosystem, das in seiner Gesamtheit nicht so gut gemessen und definiert werden kann.
Das Studium des Lebens selbst ist nicht möglich, indem man Lebewesen in Stücke schneidet, um sie zu untersuchen. Wir erhalten also nur den quantifizierbaren Teil der Forschungen.
Die Verschiebung hin zur Dominanz der linken Hemisphäre wird noch verstärkt durch eine zunehmende Abkehr von Aktivitäten, die den Zugang zu rechtshemisphärischem Erleben ermöglichen würden, sei es Zeit in der Natur zu verbringen, Muße, religiöse Rituale, Kunst erleben oder gestalten, Raum für Kreativität. Diese Aktivitäten brauchen gerade keinen eingeschränkten Fokus oder Kontrolle oder ein Manipulieren. Sie würden stattdessen die Entfaltung, ein sich Öffnen, wie zum Beispiel im Erleben der Natur ermöglichen – und das ist die Domäne der rechten Hemisphäre. Es braucht die Art und Weise der Wahrnehmung der rechten Hemisphäre, um Ehrfurcht vor der Schönheit der Natur oder der Kunst wie der Poesie zu empfinden oder um sich verbunden zu erleben, und sie ist wesentlich für Kreativität.
Informationen ist so zentral in unserer Zeit – Weisheit und Sinnhaftigkeit spielt eine geringere Rolle. Die Überbetonung von Information, die Abstraktion realer Dinge, führt dazu, dass man auf der Landkarte, der Re-Präsentation der realen Welt lebt: der Triumph der Theorie über die verkörperte Erfahrung.
Ein weiterer Trend, der uns in die Richtung der Weltanschauung der linken Hemisphäre bringt, ist die Bürokratisierung der Gesellschaft: Sie führt dazu, dass Menschen wie Dinge sortiert und organisiert werden, in sauber geordnete Kategorien, dass sie auf ihre Arbeitsfähigkeit und Nutzbringung reduziert werden.
Und natürlich der Fokus auf den Nutzwert von Tieren und der Natur insgesamt: Wir überfischen die Meere, wir überzüchten und quälen Tiere, um unseren Gewinn zu maximieren. Wir tun das ohne Rücksicht auf die Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem oder die Erde, wir verlieren Respekt und Mitgefühl für Lebewesen.
Unsere kapitalistische Wirtschaft schätzt nicht die Natur, sondern zielt auf Gewinn. Welchen Wert hat ein Fisch, der im Meer lebt und bleibt? Wir wissen es nicht? Aber wir kennen seinen Preis, wenn er gefangen, getötet und verkauft wird Diese Haltung hat enorme Auswirkungen auf das Leben auf der Erde.
Wir bräuchten ein weniger dominierenden, eine bescheideneren und mehr teilhabenden Platz in der Welt. So könnten wir ein Gefühl von Ehrfurcht und Staunen angesichts der Schönheit dieser Erde erleben, und Mitgefühl in unsere Beziehungen zu anderen Menschen und Lebewesen bringen.

Iain McGilchrist liefert viele wissenschaftliche Hinweise dafür, dass die rechte Gehirnhälfte (im stimmigen Zusammenspiel mit der linken) uns den Zugang zu unseren Werten ermöglicht, wie Wahrheit, Leben, Flow und zu allem, was uns so wertvoll ist. Rechtshirniges Denken ermöglicht uns auch, die Art des Denken der linken Gehirnhälfte zu identifizieren, die uns daran hindert, die wertvollen Qualitäten direkt zu erfahren. Die linke Gehirnhälfte ist so von ihrem Weg überzeugt, dass sie nicht über sich selbst nachdenken kann – dazu braucht sie die rechte Hemisphäre.
Natürlich ist unser Bewusstsein – diese unerklärliche, unfassbare Dimension – nicht allein durch Gehirnaktivität erklärbar oder ableitbar: dieses Phänomen ist jenseits unseres Verstehens. Erfahrbar sind diese Qualitäten auch in der Meditation, wie in der Achtsamkeits- und Mitgefühlsmeditation. Beide besänftigen und beruhigen uns und ermöglichen unsere Erfahrung von uns selbst als lebendige Präsenz.
In unserer Podcast-Episode dazu wollten wir dieser Qualitäten nicht nur beschreiben, sondern auch spürbar machen. Unser guter Freund Dr. Harry Siegel liest darin in wunderbarer Weise ein Gedicht von David Weiss vor, das unsere linkshirniges Denken wunderbar verwirrt und uns für die Welt des Erlebens öffnet. Zum Originalgedicht geht es hier, zur Übersetzung hier.