„Der Mann, der Bäume pflanzte“ (L’homme qui plantait des arbres) von Jean Giono ist eine Parabel für unsere Zeit – es ist eine Geschichte, an die ich in letzter Zeit wieder öfter denken muss.
Jean Giono schrieb diese Kurzgeschichte 1953: Der Schäfer Elzéard Bouffier lebt in der kargen, trockenen Berggegend der Provence, wo er, wie der Titel schon verrät, stetig und unermüdlich Bäume pflanzt, bis neue Wälder und Lebenskreisläufe entstehen und schließlich auch in die tieferliegenden Dörfer das Leben zurückkehrt. Die Geschichte erinnert daran, wie viel ein einzelner Mensch bewegen kann, der Autor selbst schrieb dazu: “Das Ziel bestand darin, die Liebe zum Baum zu fördern, oder genauer, die Liebe zum Pflanzen von Bäumen zu entfachen (was von jeher eine meiner teuersten Ideen ist).“
Die Geschichte hat mir immer schon gefallen, nun inspiriert sie mich neu, angesichts der Erschütterung, wenn ich mich auf die täglichen Nachrichten aus der Welt einlasse, von Krieg, Zerstörung, Verrohung in der Politik und in der Gesellschaft – und dann auch wieder so schöne, auch friedliche Momente in der Natur und im Miteinander erlebe. Diese Gleichzeitigkeit empfinden wohl viele Menschen gerade als fordernd oder überfordernd.
Über den Rückzug
Der Mann, der Tag für Tag seine Bäume pflanzt, lebt in den Bergen, weit weg vom Geschehen und den Informationen über das Leben „da unten“. Ein (namenloser) Ich-Erzähler begegnet dem Mann in den Bergen eines Tages auf einer Wanderung und er sucht ihn in den Jahren danach immer wieder auf. Elzéard Bouffier lebt in seiner eigenen Welt. Der Erzähler, der bei ihm übernachten darf, „in seiner Hütte in einer Mulde der Hochebene“, sagt von ihm: „Die Gesellschaft dieses Mannes erfüllte mich mit Frieden.“

Also lese ich die Geschichte auch als Inspiration zu gelegentlichem Rückzug in die Natur. Schon Marc Aurel schrieb rund 1900 zuvor: „Da suchen sich die Menschen Stätten, um sich zurückzuziehen, aufs Land, ins Gebirge, an die See. Auch du pflegst dich nach solchen Stätten zu sehnen.“ Auch wenn er dann doch der Ansicht war, dass man das, was man in der Natur findet, in der eigenen Seele suchen solle: „Es steht dir ja frei, zu jeglicher Stunde dich in dich selbst zurückzuziehen, und nirgends finden wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eignen Seele … Auf diese Weise also ziehe dich beständig zurück, und erneuere dich selbst.“
Über die erweiterte Sicht
Die Geschichte Elzéard Bouffiers überspannt einen langen Zeitraum, und das ist vom Autor sehr bewusst so gewählt: „Damit der Charakter eines Menschen wahrhaft außergewöhnliche Qualitäten offenbart, muss man das Glück haben, seine Tätigkeit während vieler Jahre beobachten zu können“ – so (oder so ähnlich, es gibt verschiedene, sprachlich sehr unterschiedliche Übersetzungen) beginnt die Geschichte, wenige Jahre nach der Jahrhundertwende, und sie endet mit dem Tod Bouffiers 1947.
Das, was in dieser Zeit das Weltgeschehen geprägt hat, wird auf den wenigen Seiten der Geschichte in ein paar Zeilen abgehandelt. Der Erste Weltkrieg wird vom Ich-Erzähler mit einem Satz – Im Jahr darauf begann der Krieg von 1914, in den ich fünf Jahre lang einbezogen war – und der Zweite Weltkrieg gar nicht mehr erwähnt. Er ist in dieser Berggegend nicht wichtig. Über Bouffier heißt es: „Den Krieg ignorierte er, wie den 1914.“
Bouffier hat nicht nur einen räumlichen Abstand, er überblickt auch größere Zeiträume – die Zeit, die es braucht, bis aus seinen gesammelten, sorgfältig sortierten und ebenso sorgsam eingepflanzten Eicheln stattliche Bäume werden. Wer in dieser Zeit an der Macht war oder ist, interessiert ihn nicht.
Die größeren Zeiträume zu betrachten, kann auch für uns sehr hilfreich sein. Auch das betonte schon Marc Aurel: „Alexander und Pompeius und Gaius Caesar, die so oft ganze Städte von Grund aus zerstört haben (…) haben auch selber einmal aus dem Leben scheiden müssen. Den Demokrit töteten Läuse, den Sokrates andere Läuse.“ (er meint natürlich die Ankläger des Sokrates). Und an anderer Stelle:
„Begraben liegen sie alle, die Fabius, Julianus, Lepidus oder wie sie heißen mögen, die allerdings so manche andere überlebten, dann aber doch auch an die Reihe mussten.“ Marc Aurel
Manchmal ertappe ich mich bei diesem irgendwie tröstlichen Gedanken: Egal, wie mächtig gewissenlose PolitikerInnen, Milliardäre und andere Potentaten auch immer sein mögen, irgendwann werden auch sie von der Bildfläche verschwunden sein – und ich denke, mit Marc Aurel im Hinterkopf: „Was du im Widerspruch mit der allgemeinen Menschennatur tust, wird dir (auf lange Sicht) nicht gelingen.“
Schon zur Zeit des römischen Reiches gab es wahnhafte, grausame, zynische Diktatoren. Aber welch große Bedeutung, welche Wirkmacht hat Marc Aurel bis heute – und welche dagegen Kaiser Caligula, der ja bekanntlich sein Pferd Incitatus zum Konsul machen wollte, wodurch die Senatoren, die (man fühlt sich an die heutige US-Politik erinnert) gedemütigt werden sollten. Worauf sie nur mit Lobpreisungen des Kaisers antworten konnten, was ihre Demütigung noch verstärkte.
Die Haltung Marc Aurels dazu: „dass all das, was du hier siehst, beinah schon in Umwandlung begriffen ist und bald gar nicht mehr sein wird.“ Und, die stoische Antwort auf den ständigen Wandel: Sich aufs eigene Tun zu besinnen.
Über den Fokus aufs eigene Handeln
Man könnte Bouffier insofern tatsächlich als einen Stoiker bezeichnen – vielleicht hätte Marc Aurel – der ja die meiste Zeit im Krieg war und seine Selbstbetrachtungen im Feldlager schrieb – so ein Leben gerne geführt.
„Niemand kann dich hindern, dem Gesetze deiner eigensten Natur zu folgen.“ Marc Aurel
Bouffier hat Abstand zur Welt, zur Anthropozentrik und Egozentrik seiner Mitmenschen, und es ist eindrücklich, dass gerade sein Rückzug aus der Welt, sein beharrliches Pflanzen der Bäume, am Ende so vielen Menschen zugute kommt. Die neu gepflanzten Wälder führen dazu, dass die Böden fruchtbarer werden, und sich wieder Menschen in der Gegend ansiedeln: „Zählt man die Eingewanderten zu der alten, kaum wieder zu erkennenden Bevölkerung dazu“, heisst es in der Geschichte „so verdanken mehr als zehntausend Personen ihr Glück Elzéard Bouffier.“

Der Ich-Erzähler kehrt, nachdem er im ersten Weltkrieg gekämpft hat, zurück in die Berge, zu Bouffier: „Er sagte, und ich konnte das sehen, dass er sich überhaupt nicht um den Krieg geschert hatte, sondern weiter pflanzte, ohne sich stören zu lassen. Die Eichen von 1910 waren nun zehn Jahre alt und grösser als er und ich, ein beeindruckender Anblick.“
Und weiter: „Elzéard Bouffier zeigte mir wunderbare Birkenhaine, die fünf Jahre alt waren; sie stammten also von 1915, als ich in Verdun kämpfte. Dieses schöpferische Werk schien übrigens weiterzuwirken. Er kümmerte sich nicht darum. Er verfolgte hartnäckig seine schlichte Aufgabe. Aber als ich in die Dörfer hinunter kam, sah ich Wasser fließen in Bachbetten, die seit Menschengedenken völlig trocken gewesen waren. Es war die großartigste Kettenreaktion, die ich je zu sehen bekommen habe. Stellte man sich vor, wie das alles aus den Händen und der Seele dieses Mannes entstanden, so verstand man, dass Menschen eine gottgleiche Macht haben können, nicht nur im Zerstören.“
Über die Rezeption der Geschichte
Jean Gionos Erzählung wurde in 13 Sprachen übersetzt und verbreitete sich in der ganzen Welt.
Was LeserInnen natürlich immer wieder wissen wollten: Und, ist die Geschichte wahr? Sie enthält natürlich grundlegende Wahrheiten –tatsächlich bemühte man sich in der Region schon seit 1880 um eine Wiederaufforstung. Vor dem ersten Weltkrieg wurden hundert Tausend Hektare Wald aufgeforstet, hauptsächlich mit Schwarzkiefern und Lärchen. Die neu entstandenen Wälder haben die Landschaft und den Wasserhaushalt nachhaltig verändert.
Auch ein gewisser Herr Valdeyron, Konservator für Wasser und Wald in Digne, wollte vom Autor wissen, ob die Geschichte wahr ist. Jean Giono schrieb ihm (1957) folgenden Brief :
Sehr geehrter Herr,
Leider muss ich Sie enttäuschen, Elzéard Bouffier ist eine erfundene Person. Mein Ziel war es, die Liebe zu Bäumen oder besser die Liebe zum Pflanzen von Bäumen zu fördern. Das ist seit jeher eine meiner liebsten Ideen. Misst man die Sache am Resultat, so ist das Ziel durch diese erfundene Person erreicht worden. (…) Ich habe die Rechte für alle diese Veröffentlichungen kostenlos abgetreten. Ein Bürger der USA besuchte mich kürzlich und bat mich um die Rechte, hundert Tausend Exemplare gratis in den USA verteilen zu können. Natürlich habe ich zugesagt. Es ist einer der Texte, auf die ich besonders stolz bin. Er bringt mir keinen Cent ein, und darum wohl erreicht er genau das, wofür er geschrieben wurde.
(…) Ich glaube, es ist Zeit für eine ‚Politik der Bäume‘, wenn auch das Wort Politik schlecht zu passen scheint“.
Am Ende der Geschichte sagt der Ich-Erzähler:
„Wenn ich so sehe, wie ein einziger Mensch, sich auf seine physischen und moralischen Kräfte verlassend, genügt, um aus einer Wüste ein Gelobtes Land zu machen, denke ich, dass die Menschheit trotz allem bewundernswert ist.“
Und, wenn es in diesen Tagen oft schwer ist, das Bewundernswerte im Menschen zu sehen, so hilft wiederum Marc Aurel:
„Wo ein Werk in Einklang mit der Vernunft vollbracht werden kann, die Göttern und Menschen gemeinsam ist, da ist nichts Schlimmes. Denn wo es möglich ist, durch eine Tätigkeit, die den rechten Weg einschlägt und im Einklang mit der Natur des Menschen vorgeht, unser Wohl zu fördern, da braucht man keinen Schaden zu fürchten.“1
- Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, in der Übersetzung von Wilhelm Capelle, Überarbeitung von Jörg Fündling (Kröner Verlag). Mit einer hilfreichen Einführung von Jörg Fündling, die Marc Aurels Biografie und die Lehre der Stoa beschreibt. ↩︎
Jean Giono: Der Mann, der Bäume pflanzte. Der Text findet sich als pdf frei im Netz, es gibt auch einen sehr schönen animierten Kurzfilm dazu (der 1988 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde).