Überleben … oder lebendig Leben (Teil 1)

Das Thema hier und in unserem podcast: Wenn die Metakrise unseren Survival-Modus aktiviert, leben und handeln wir überwiegend aus Angst. Und wir verzichten auf die Qualitäten, die uns ein gutes Leben ermöglichen. Wie können wir angesichts der Metakrise ein gutes Leben führen? Wir beginnen damit, unsere Situation als Ergebnis mehrerer miteinander verwobener Ursachen zu verstehen.

Neben dem Wissen um die wirtschaftlichen, technologischen und politischen Ursachen der Metakrise benötigen wir auch ein psychologisches Verständnis. Die psychologische Funktionsweise unseres Geistes, unser Welt- und Selbstverständnis, die Narrative in denen wir Leben, bedingen und verstärken die Metakrise. Warum zerstören wir unsere Welt in einem Ausmaß, das niemand will?

Daniel Schmachtenberger, Mitbegründer des „Consilience Project“ bietet in vielerlei Hinsicht ein tiefes Verständnis dafür. Er ist einer der visionärsten Denker unserer Zeit. Wir können hier nur auf einige seiner Arbeiten verweisen. Es lohnt sich, seine Vorträge auf youtube zu sehen und hören, sehr empfehlenswert ist auch der großartige, wegweisende Leitartikel des Consilience Project über das „Konzept des Fortschritts“ vom Sommer 2024, den es hier auch auf Deutsch gibt. Wir werden in unserer nächsten Podcast Episode genauer darauf eingehen, hier greifen wir einen anderen wertvollen Aspekt der Arbeit von Daniel Schmachtenberger heraus.

Spieltheorie und „Multipolar traps“

Inwiefern hilft uns die Spieltheorie, die Dynamik der Metakrise besser zu verstehen?

Daniel Schmachtenberger definiert zunächst die Spieltheorie als einen Zweig der Mathematik, der sich auf optimale strategische Entscheidungsfindung unter unsicheren Bedingungen konzentriert. Er betont, dass die Spieltheorie im Wesentlichen strategisches Denken in Situationen mit Wettbewerb und mit unvollständigen Informationen modelliert, ähnlich wie es im Schachspiel oder in der weltweiten Militärstrategie bereits praktiziert wird –  in unserer Welt müssen wir optimale strategische Entscheidungen unter Bedingungen der Unsicherheit treffen. Wir tun dies ständig, meist ohne uns dessen bewusst zu sein.

In unserer wettbewerbsorientierten Wirtschaft handelt jeder Akteur in seinem rationalen, aber kurzfristigem Interesse. Wenn dies alle tun, führt es zu kollektivem Verhalten, das langfristig allen schadet – die Allgemeinheit leidet. Dieses Versagen bei der Strategie- und  Entscheidungsfindung und der Koordination wird als „multipolar traps“ bezeichnet:

Multipolar traps bedeuten, dass es starke Kräfte und Anreize gibt, die die Zivilisation in negativen Entwicklungen treiben, selbst wenn niemand diese Entwicklungen und deren Ergebnisse wünscht.

Ein Beispiel: Die Klimakrise wäre leichter zu bewältigen, wenn sich Regierungen, Unternehmen usw. auf gleichzeitige, koordinierte Maßnahmen zur Reduzierung des CO2Ausstosses einigen könnten. Doch ohne diese Einigung liegt es im kurzfristigen Eigeninteresse aller Einzelnen Firmen und Staaten, weiterhin die Umwelt zu verschmutzen: Wir haben es mit einem Koordinationsversagen zu tun.

Das Konzept des Koordinationsversagens

Das Konzept des Koordinationsversagens ermöglicht eine klarere Sicht auf die miteinander verflochtenen Krisen, mit denen wir in modernen Gesellschaften konfrontiert sind. Wenn ein mächtiger „Spieler“ beschließt, unverhältnismäßig hohe Vorteile zu erlangen, müssen alle anderen mitziehen, um nicht zu verlieren und besiegt oder ausgenutzt zu werden. So kann eine übervorteilende Partei den „Spielverlauf“ vollkommen bestimmen.

Ein sehr aktuelles Beispiel ist das Wettrüsten zwischen den Nationen: Große Länder geben zwischen 5% und 30% ihres Haushalts für Verteidigung aus. Dies, obwohl dann Gelder für Infrastruktur, Gesundheit, Bildung oder Wirtschaftswachstum fehlen. Und obwohl in diesen Ländern in den letzten 50 Jahren größtenteils kein Krieg herrschte. Denn jedes Land, das nicht genügend Geld für Verteidigung ausgibt, riskiert eine Invasion durch ein Nachbarland, das aufgerüstet hat. Daher versuchen fast alle Länder, genügend Geld für Verteidigung auszugeben.

Wenn ein Land bessere, neue Waffen entwickelt, müssen die anderen Nationen gute Gegenwaffen entwickeln. Und dann muss jede Nation über Waffen gegen diese neuen Waffen verfügen, dann braucht es verbesserte Waffen und dann Waffen gegen diese verbesserten Waffen und so weiter … Obwohl die einzelnen Akteure sicher grundsätzlich dafür wären, stattdessen mehr Geld für soziale Sicherheit, Bildung, Gesundheitsversorgung und Kunst bereitzustellen.

Ein weiteres Beispiel: Wenn ein Fischereiunternehmen anfängt, größere Schiffe und längere Netze für den Fischfang zu bauen, um kurzfristige Mehr-Gewinne zu erzielen, verändert es die Spielregeln – es opfert den Wert der nachhaltigen Fischerei. Nun müssen auch die Konkurrenten diesen Wert der Nachhaltigkeit aufgeben, um wettbewerbsfähig zu bleiben und nicht vom Markt verdrängt zu werden. Und selbst wenn sie weiterhin nachhaltig fischen würden, würde das ohnehin nichts nützen, denn die anderen würden ihnen einfach die Fische wegfischen – natürlich führt das in beiden Fällen zu Überfischung und Zerstörung von Ökosystemen: langfristig ein schlechtes Ergebnis für alle.

Die „Tragik der Allmende“

Dieses Phänomen nennt man die „Tragik der Allmende“. Es ist das Problem der Ressourcen, die einerseits begrenzt, aber gleichzeitig frei verfügbar sind. D.h. wenn ein Akteur diese Ressourcen ausschöpft, bleibt weniger oder nichts für die anderen übrig. Im Mittelalter war die Allmende eine Weidefläche die allen gehörte. Die Allmende war also Gemeinschafts-Eigentum, wurde von allen genutzt – und dadurch übermäßig beansprucht. Die Tragik besteht im Umgang mit diesen Gütern. Ohne Regelungen oder höhere Instanzen werden die einzelnen Akteure sich so viel wie möglich von diesem Gut beschaffen, bevor es andere tun. Dies führt natürlich zur Erschöpfung der Ressourcen.

Wie im oben genannten Beispiel: Die Überfischung der Weltmeere führt mittelfristig zu einem Aussterben verschiedener Arten und somit zu einem dauerhaften Verlust für alle. 

Das unendliche Spiel

Daniel Schmachtenberger zeigt einen weiteren Aspekt auf: Alle Spiele, die wir üblicherweise spielen, sind endlich – wenn man gewonnen oder verloren hat, ist das Spiel vorbei. Wir spielen also um den Sieg, es geht ums gewinnen.

Doch unser „Spiel“ hier auf Erden ist nicht endlich: Es ist unendlich. Und in einem unendlichen Spiel sollten alle Beteiligten natürlich Regeln für ein glücklicheres, für beide Seiten befriedigendes Spiel vereinbaren, denn es geht nicht darum, dass einer den anderen besiegt. Wir würden versuchen, gemeinsam ein gesundes und gutes Leben zu führen: Nachhaltigkeit wäre sofort wesentlich.

Doch wir wenden diese Spielregeln für endliche Spiele unbewusst auf unser „unendliches Spiel“ in diesem Leben an: Wir zerstören die langfristigen Werte für einen kurzfristigen Gewinn, und alle Gemeingüter und wesentlichen Werte leiden darunter. Daniel Schmachtenberger argumentiert, dass diese spieltheoretische Logik, bei der Gewinn-um-jeden Preis die langfristige Nachhaltigkeit übertrumpft, vielen der globalen Krisen zugrunde liegt, mit denen wir konfrontiert sind. Ein extremes und sehr anschauliches Beispiel dafür liefert Douglas Rushkoffs Buch „Survival of the Richest. Warum wir vor den Tech-Milliardären noch nicht einmal auf dem Mars sicher sind“, das wir hier besprochen haben.

Das Gefangenen-Dilemma

Das „Gefangenen-Dilemma“ ist ein spieltheoretisches Grund-Beispiel, von dem wir hier nur folgende Variante vorstellen: Ein Unternehmen steht vor dem Problem, ob es in Werbung investieren soll – während ein konkurrierendes  Unternehmen derselben Branche ebenfalls überlegt, das zu tun, um den Umsatz zu steigern.

Die erwartete Umsatzentwicklung hängt vom Verhalten des jeweils anderen Unternehmens ab:

• Wenn nur ein Unternehmen wirbt, ist mit einem starken Umsatzanstieg dieses Unternehmens zu rechnen, während der Umsatz des anderen Unternehmens eher sinken wird.

• Wenn beide Unternehmen werben, ist für beide nur ein moderater Umsatzanstieg zu erwarten.

• Wenn keines der beiden Unternehmen wirbt, steigen die Umsätze beider Unternehmen im üblichen Rahmen, sie haben auch beide weniger Ausgaben, da sie kein Geld für Werbung ausgeben müssen.

Wenn wir die Entscheidung des anderen nicht kennen, neigen wir dazu, misstrauisch zu sein und unser Handeln danach auszurichten. D.h. in diesem Beispiel: Beide Unternehmen entscheiden sich für Werbung, die Umsätze beider Unternehmen steigen dadurch jedoch nur geringfügig. Hätte keines der beiden Unternehmen Werbung gemacht, wäre der Umsatzanstieg für beide Unternehmen höher ausgefallen, sodass ihr jeweiliger Nutzen optimaler ausgefallen wäre.

Die Sinnkrise und die Notwendigkeit für Weisheit

Daniel Schmachtenberger betont die Grenzen einer rein wissenschaftlich-technologischen Weltsicht bei der Bewältigung der existenziellen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Er argumentiert, dass die Wissenschaft zwar hervorragend darin sei, die physische Welt zu beschreiben („was ist“), sich aber schwer damit tut, Orientierung für Werte und Ethik zu geben („was sein sollte“). Er vermutet, dass der Mangel an „Was Sein Sollte“ dazu geführt habt, dass dem technologischen Fortschritt, der von Marktkräften und spieltheoretischer Logik geleitet wird, oft ein moralischer Kompass fehlt – Moral und Werte sind auch nicht in objektivierbare und messbare Daten übersetzbar wie z.B. Gewinnanalysen, und dadurch abstrakter und weniger präsent.

Wenn es weder einen größeren Sinn noch Werte gibt, erscheint der Hedonismus als eine berechtigte rationale Perspektive, in der Marktdynamik und Spieltheorie die Oberhand gewinnen. In der Wissenschaft fehlt uns eine Orientierung für das, was sein sollte. Wer entscheidet dann, welche Technologie entwickelt und welche Wissenschaft gefördert wird? Der Markt. Und die Spieltheorie.

Schmachtenberger plädiert für eine Wiederentdeckung der Weisheit, einer Eigenschaft, die die Tugend der Zurückhaltung voraussetzt und mit einem tiefen Verständnis der Zusammenhänge des Lebens verbunden ist. Wahrer Fortschritt erfordert einen Wertewandel, der dem Erhalt und der Bewahrung unseres Planeten Priorität einräumt und die Schönheit und Sinnhaftigkeit allen Lebensformen anerkennt. 

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