Viktor Frankl – und die letzte menschliche Freiheit

Er erlebte die Hölle. Und in dieser Hölle begann er sich zu fragen, warum manche Menschen selbst unter den schrecklichsten Umständen nicht aufgeben, während andere zusammenbrechen.

Viktor Frankl schrieb: Wer von denen, die das Konzentrationslager erlebt haben, wüsste nicht von jenen Menschengestalten zu erzählen, die da über die Appellplätze oder durch die Baracken des Lagers gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend? Und mögen es auch nur wenige gewesen sein – sie haben Beweiskraft dafür, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einstellen. Und es gab ein »So oder so«!

Frankl, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, wurde 1905 geboren und erlangte die Doktorgrade der Medizin und der Philosophie an der Universität Wien. 1938 wurde ihm die Behandlung sogenannter „arischer“ Menschen verboten. Anschließend leitete er das letzte Krankenhaus in Wien, das noch jüdische Patienten behandelte.

– Liliana Porter, El hombre con el hacha y otras situaciones breves (2017, Biennale di Venezia) –

1942 wurde er mit seiner Frau und seinen Eltern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Sein Vater starb dort 1943. Seine Mutter wurde später in Auschwitz ermordet. Seine Frau im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Frankl selbst und die wenigen seiner Mithäftlinge, die überlebt hatten, wurde 1945 von der US-Armee befreit.

Eine beeindruckende Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung

Er versuchte, sich selbst als Zeugen zu sehen; er wollte überleben, um später über das Grauen berichten zu können – das gab ihm Sinn und Überlebenswillen:

„Fast weinend vor Schmerzen in den wunden Füßen, die in offenen Schuhen staken, im grimmigen Frost und eisigen Gegenwind, humpelte ich in langer Kolonne die paar Kilometer vom Lager zum Arbeitsplatz. Mein Geist beschäftigte sich unablässig mit den tausendfältigen kleinen Problemen unseres armseligen Lagerlebens: Was wird es heute Abend zu essen geben? Soll ich die Scheibe Wurst, die es vielleicht als Zubuße geben wird, nicht lieber für ein Stück Brot eintauschen? Soll ich die letzte Zigarette, die mir von der »Prämie« vor vierzehn Tagen verblieben ist, gegen eine Schüssel Suppe einhandeln? Wie komme ich zu einem Stück Draht, um den gebrochenen zu ersetzen, der mir als Schuhriemenersatz dient (…)  

Schon ekelt mich dieser grausame Zwang an, unter dem all mein Denken sich täglich und stündlich nur mit solchen Fragen abplagen muss. Da gebrauche ich einen Trick: plötzlich sehe ich mich selber in einem hell erleuchteten, schönen und warmen, großen Vortragssaal am Rednerpult stehen, vor mir ein interessiert lauschendes Publikum in gemütlichen Polstersitzen – und ich spreche; spreche und halte einen Vortrag über die Psychologie des Konzentrationslagers! Und all das, was mich so quält und bedrückt, all das wird objektiviert und von einer höheren Warte der Wissenschaftlichkeit aus gesehen und geschildert … Und mit diesem Trick gelingt es mir, mich irgendwie über die Situation, über die Gegenwart und über ihr Leid zu stellen, und sie so zu schauen, als ob sie schon Vergangenheit darstellte und ich selbst, mitsamt all meinem Leiden, Objekt einer interessanten psychologisch-wissenschaftlichen Untersuchung wäre, die ich selber vornehme.“

Dies ist eine beeindruckende Art einer Sich-selbst-erfüllender Prophezeiung. Indem er sich selbst in einer besseren Zukunft sah, war er in der Lage, den Schrecken zu ertragen – und so war er später auch tatsächlich in der Lage, diese im KZ imaginierten Vorträge tatsächlich zu halten.

– Liliana Porter, El hombre con el hacha y otras situaciones breves (2017, Biennale di Venezia) –

In neun Tagen schrieb er sein Buch „…Trotzdem ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“.“ Es ist nicht nur ein Bericht aus dem KZ, sondern auch Trauma-Bewältigung, und eine eindringliche fachlich-psychologische Analyse der Seele des Menschen unter extremsten Umständen.

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegt unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Viele kennen die berühmtesten Sätze von Viktor Frankl. Es lohnt sich jedoch unbedingt, den ganzen Bericht zu lesen. Wir lesen nicht nur Schreckliches. Wie Frankl, inmitten des Grauens, die Liebe zu seiner Frau ihn vollständig erfüllt, das ist sehr berührend zu lesen. Obwohl der Text, wie ich finde, eigentlich nicht gekürzt wiedergegeben werden sollte, hier doch ein Ausschnitt: Sein Leben lang arbeitete Frankl zu diesen Themen: Sinn, Widerstandsfähigkeit und die Möglichkeit, das Leben auch angesichts großer Widrigkeiten in Würde zu leben.

„Während wir kilometerweit dahinstolpern, im Schnee waten oder auf vereisten Stellen ausgleiten, immer wieder einander stützend, uns gegenseitig hochreißend und vorwärtsschleppend, fällt kein Wort mehr, aber wir wissen in dieser Stunde: Jeder von uns denkt jetzt nur an seine Frau. (…) Ich führe Gespräche mit meiner Frau. Ich höre sie antworten, ich sehe sie lächeln, ich sehe ihren fordernden und ermutigenden Blick, und – leibhaftig oder nicht – ihr Blick leuchtet jetzt mehr als die Sonne, die soeben aufgeht. Da durchzuckt mich ein Gedanke: Das erste Mal in meinem Leben erfahre ich die Wahrheit dessen, was so viele Denker als der Weisheit letzten Schluss aus ihrem Leben herausgestellt und was so viele Dichter besungen haben; die Wahrheit, dass Liebe irgendwie das Letzte und das Höchste ist, zu dem sich menschliches Dasein aufzuschwingen vermag.“

(…) Vor mir stürzt ein Kamerad, die hinter ihm Marschierenden kommen dadurch zu Fall. Schon ist der Posten zur Stelle und drischt auf sie ein. Für wenige Sekunden ist mein betrachtendes Leben unterbrochen. Aber im Nu schwingt sich meine Seele wieder auf, rettet sich wieder aus dem Diesseits der Häftlingsexistenz

Die innere Welt inmitten des äußeren Grauens

Frankl schreibt: „Die mögliche Verinnerlichung selbst im Leben im Konzentrationslager führt auch dazu, dass der Häftling in die Vergangenheit flüchtet: Sich selbst überlassen, beschäftigt sich seine Fantasie immer wieder mit verflossenen Erlebnissen, aber nicht etwa mit den großen Erlebnissen – die alltäglichste Begebenheit, die nichtigsten Dinge oder Geschehnisse seines früheren Lebens sind es oft, um die sein Denken kreist. (…) Man fährt mit der Straßenbahn, man kommt nach Hause, sperrt die Wohnungstür auf, das Telefon klingelt, man hebt den Hörer ab, man schaltet die elektrische Zimmerbeleuchtung ein – so scheinbar lächerliche Details sind es, die der Häftling in seinem Rückinnern gleichsam streichelt. Ja, die wehmütige Erinnerung an sie vermag ihn zu Tränen zu rühren!

Diese Intensität dieses Erlebens kann ihn die Umwelt und das ganze Furchtbare seiner Situation vollends vergessen lassen. Wer unsere Gesichter gesehen hätte, strahlend vor Entzücken, als wir durch die vergitterten Luken eines Gefangenentransportwaggons auf der Bahnfahrt von Auschwitz in ein bayerisches Lager auf die Salzburger Berge hinaussehen, deren Gipfel gerade im Abendrot erstrahlten, der hätte es nie glauben können, dass es die Gesichter von Menschen waren, die praktisch mit ihren Leben abgeschlossen hatte; trotzdem – oder gerade deshalb? – waren sie hingerissen vom jahrelang entbehrten Anblick der Naturschönheit.“

Elisabeth Lukas, Schülerin von Frankl betonte einmal im Interview: Frankl fragt nicht danach, warum jemand seelisch krank wird, sondern nach einem Grund zur Gesundwerdung. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Nervenarzt und Psychiater. Ganz neu damals war, dass er Kontroll-Untersuchungen machte, um seelisch kranke mit seelisch gesunden Menschen zu vergleichen. Dabei stellte er fest, dass beide Gruppen gleich viele Traumata hatten. Bei dieser Erkenntnis ließ Frankl Freuds These, dass die Vorgeschichte der Ursprung aller seelischer Krankheit ist, fallen.

– Liliana Porter, El hombre con el hacha y otras situaciones breves (2017, Biennale di Venezia) – 

„Das Leben ist nicht in erster Linie eine Suche nach Vergnügen, wie Freud glaubte, oder eine Suche nach Macht, wie Alfred Adler lehrte, sondern eine Suche nach Sinn. Die größte Aufgabe eines jeden Menschen besteht darin, einen Sinn im eigenen Leben zu finden.“

Ursprung des Leidens war für Viktor Frankl, dass die Betroffenen keinen Sinn im Leben sahen. Wenn Menschen Sinn erleben, sind sie geschützter vor seelischen Krankheiten. Im gleichen Interview sagte Lukas: „Ein solcher Sinn kann nicht willkürlich gesetzt werden, den muss jeder für sich „herausspüren“. Wenn sich zum Beispiel ein Politiker hinstellt und sagt: „Mein Sinn besteht darin, das Nachbarland zu bombardieren, weil es da Öl gibt“, ist das nicht der Sinn, den Frankl meint. Laut ihm haben Menschen ein „prämoralisches Wertverständnis“, das anspringt, bevor anerzogene Werte ins Spiel kommen. Er spricht von einer Art Sinn-Organ, das uns Sinn ahnen lässt.“

Sinnstiftend war für Frankl selbst noch im Konzentrationslager, seine Würde zu bewahren, und anderen Häftlingen, so gut es ging, zu helfen.

„Wer Licht spenden will, muss das Brennen ertragen.“ – Viktor Frankl 

Er arbeitete nicht nur auf der Krankenstation unter widrigsten Umständen, sondern versuchte auch, tröstende Worte für seine Leidensgenossen zu finden. So spricht er einmal im Dunkeln mit ihnen:

„Und diesen letzten Sinn dieses unseres Lebens hier – in dieser Lagerbaracke – und jetzt – in dieser praktisch aussichtslosen Situation – zu geben, das war das Bemühen meiner Worte. (…) Dass diese Bemühung ihr Ziel erreichte, erfuhr ich alsbald. Kahl flammte die elektrische Birne an einem Balken unserer Baracke wieder auf, und ich sah die Elendsgestalten meiner Kameraden, die nun mit Tränen in den Augen zu meinem Platz heranhumpelten, um – sich zu bedanken… Dass ich aber nur allzu selten die innere Kraft hatte, mich zu solchem letzten inneren Kontakt mit meinen Leidensgenossen aufzuschwingen wie an diesem Abend (…) soll hier eingestanden werden.“

Bemerkenswert ist auch, dass Frankl nach dem Zweiten Weltkrieg keine Rachegedanken hatte und sich immer gegen den Begriff der Kollektivschuld verwahrt hat. Auch dies, nicht aus theoretischen Gedanken heraus, sondern aufgrund seiner Erlebnisse: 

„Der Lagerälteste eben dieses Lagers jedoch, also ein Häftling, war schärfer als alle SS-Wachen des Lagers zusammen; er schlug die Häftlinge, wann und wo und wie er nur konnte, während beispielsweise der Lagerführer meines Wissens kein einziges Mal die Hand gegen einen »seiner« Häftlinge erhoben hat. Daraus ersieht man eines: mit der Kennzeichnung eines Menschen als Angehörigen der Lagerwache oder, umgekehrt, als Lagerhäftling ist nicht das Geringste gesagt. Menschliche Güte kann man bei allen Menschen finden, sie findet sich auch bei der Gruppe, deren pauschale Verurteilung doch gewiss sehr nahe liegt. Es überschneidet sich eben die Grenzen! So einfach dürfen wir es uns nicht machen, dass wir erklären: die einen sind Engel und die anderen sind Teufel.“

Was ist also der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfundener hat; aber gleichzeitig ist er auch das Wesen, das in den Gaskammern gegangen ist, aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.

Der beste Schachzug der Welt

Frankl beschreibt, wie unterschiedlich der Sinn sich ausdrücken kann:

“Dieser Sinn lässt sich nun auf dreifache Weise erfüllen: Entweder schöpferisch, indem wir ein Werk schaffen, indem wir eine Tat setzen. Oder aber erlebend, indem wir die Schönheit der Natur, die Güte eines Menschen erleben. Oder einen Menschen liebend, ihn in seinem innersten Wesen erlebend. Drittens, wo es notwendig ist, wo die Ursache einer Leidenssituation sich auf keinen Fall mehr beseitigen lässt, kommt es darauf an, mit welcher Haltung und welcher Einstellung wir das Leiden auf uns nehmen: in Tapferkeit und in Würde.”

In unserm podcast haben wir eine Metapher von Viktor Frankl herausgegriffen, die uns in schwierigen Situationen – besonders bei Entscheidungen – helfen könnte. 

Wir sind es gewohnt, sehr allgemein und grundlegend über den Sinn unseres Lebens nachzudenken. Oder wir vergleichen uns mit anderen Menschen. Und dann verlieren wir uns selbst. Wir brauchen den nächsten Schritt. Wie finden wir diesen? Wann immer wir uns mit anderen vergleichen, wählen wir einen bestimmten Aspekt aus – ich möchte so aussehen wie diese Person – ich möchte so kreativ oder so erfolgreich wie diese … und so weiter. Aber wir sehen nicht das ganze Bild. Wir sehen nicht den ganzen Weg, den wir gegangen sind, und den ganz anderen Weg, den jemand anderes gegangen ist. Von Anfang an bis heute.

Viktor Frankl sagte: „Eine allgemein gültige, für alle verbindliche Lebensaufgabe muss uns in existenzanalytischem Aspekt eigentlich unmöglich erscheinen. In dieser Sicht ist die Frage nach »der« Aufgabe im Leben, nach »dem« Sinn des Lebens – sinnlos. Sie müsste uns vorkommen, wie etwa die Frage eines Reporters, der einen Schach-Weltmeister interviewt: Und nun sagen Sie, verehrter Meister – welches ist der beste Schachzug?“

Nach dem Sinn des Lebens zu fragen, ist also genauso sinnlos, wie nach dem besten Schachzug der Welt zu fragen. Es gibt ihn nicht. 

Es hängt von vielem ab – von der jeweiligen Spielsituation. Vom Gegner. Von den Positionen. So kann man das also nicht beantworten. Es gibt keinen besten Schachzug. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, solange man es grundsätzlich betrachtet. Oder zumindest ein paar Millionen. Doch in einer bestimmten Situation bleiben plötzlich nur noch sehr wenige Möglichkeiten. Vielleicht nur eine.

Wir müssen also nicht über den Sinn des Lebens nachdenken. Wir können versuchen, herauszufinden, was der beste nächste Schritt ist. Versuchen, den gesamten Weg zu sehen. Woher wir kommen. Wie die Situation ist. Was jetzt relevant ist. Daraus ergibt sich womöglich der nächste Schritt. 

Viktor Frankl (1946): … Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager