… und die lyrische Hausapotheke
Erich Kästner veröffentlichte 1936 einen Gedichtband, den er humorvoll „Die Lyrische Hausapotheke“ nannte. Darin schreibt er: „Es tut gut, wenn jemand anderes den eigenen Kummer ausdrückt. Es ist auch angenehm zu erfahren, dass es anderen nicht anders geht und sie nicht besser dran sind als wir.“
Kästner spielt mit der Metapher der „Hausapotheke“, um zu verdeutlichen, dass Gedichte Heilmittel für die Seele sein und Trost, Freude und Einsicht bieten können – so wie Medikamente physische oder psychische Leiden linden sollen. In dieser Sammlung behandelt Kästner verschiedene Themen wie Liebe, Verlust, Gesellschaftliches und das menschliche Dasein, er nennt Beschwerden, körperliche wie seelische, sowie die jeweiligen Seiten im Buch, die zur Linderung der Leiden gelesen werden sollten.
Die Idee der „seelischen Verwendbarkeit“ von Gedichten äußerte Kästners schon in den 1920er Jahren, und sicher haben die meisten von uns schon einmal die Erfahrungen gemacht, wie tröstlich, wie wohltuend und wertvoll ein Gedicht – ein Roman, ein paar Zeilen, ein Bild, ein Musikstück – sein können, wenn man sich darin wiederfindet.
Auch Marcel Reich-Ranicki erging es so mit Kästners Gedichten, die „Lyrische Hausapotheke“ half ihm im Warschauer Getto über schwere Zeiten hinweg. Seine Freundin und spätere Ehefrau Teofila hatte die Gedichte für ihn abgeschrieben und farbig illustriert. Sie boten ihm Trost, Hoffnung und eine Flucht aus der grausamen Realität, die er im Ghetto erlebte, schreibt Reich-Ranicki in seiner Autobiografie.
Auch wenn Kästner sich irgendwie mit den Nationalsozialisten arrangierte, arrangieren musste – auch er lebte in Unsicherheit und Angst. Er wurde mehrfach verhaftet und wieder freigelassen. Seine Bücher wurden verboten und verbrannt, am 10. Mai 1933 war er bei der Bücherverbrennung in Berlin dabei. Danach konnte er nur noch in der Schweiz publizieren – unter anderem auch „Dr. Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“, im Jahr 1936.
Etwa sechs Jahre zuvor schrieb er folgendes Gedicht:
Was auch immer geschieht:
Nie dürft Ihr so tief sinken,
von dem Kakao, durch den man Euch zieht,
auch noch zu trinken!
Die Redewendung „jemanden durch den Kakao ziehen“, ist über hundert Jahre alt und meint ja eher einen Witz auf Kosten anderer auf humorvolle oder spielerische Weise. Aber vielleicht ist die Bedeutung in Kästners Gedicht dunkler. Kakao erinnert im Wortklang (und Farbe) an das lateinische „cacare“ (ja, es bedeutet genau das, was wir hier denken). Man wird also buchstäblich durch den Dreck oder vielmehr die Sch* gezogen. Das Bonmot ist in erster Linie politisch gemeint, die Anspielung auf die Nazi-„Braunhemden“ scheint offensichtlich.
Vielleicht ist dieses Gedicht eine Art Mahnung und Ermutigung, nicht nur an seine Leser gerichtet, sondern auch an sich selbst, in dem Versuch, angesichts schwierigster gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse Integrität und die eigenen Überzeugungen zu bewahren. Nicht zum Mitläufer zu werden.
Das blaue Buch – Geheimes Kriegstagebuch 1941-1945
Von 1941 bis zum Kriegsende 1945 schrieb Kästner heimlich auf, was sich um ihn herum und an der Front ereignete: Das Blaue Buch, sein „Geheimes Kriegstagebuch“, das ich gerade lese, bringt diese Zeit, an die wir uns in diesen Tagen so oft erinnert fühlen – eindringlich und erschreckend nah.
Kästner hat versucht, zum Chronisten seiner Zeit zu werden, die erklärte Absicht seiner Aufzeichnungen im „Blauen Buch“ formuliert er bereits in seinem ersten Eintrag am 16. Januar 1941:
„Der Entschluss ist gefasst. Ich werde ab heute wichtige Einzelheiten des Kriegsalltags aufzeichnen. Ich will es tun, damit ich sie nicht vergesse, und bevor sie, je nachdem wie dieser Krieg ausgehen wird, mit Absicht und auch absichtslos allgemein vergessen, verändert, gedeutet oder umgedeutet sein werden.
Zeugenschaft – das ist sicher etwas, das wir noch öfter thematisieren werden, und etwas, das Menschen hilft, in schwierigen Zeiten Sinn zu finden.
Hier noch ein paar weitere Auszüge aus Kästners Aufzeichnungen:
„Erzählenswert ist die missglückte Rede Baldur von Schirachs vor den Arbeitern einer Fabrik in Floridsdorf. Sie übertrieben ihre Begeisterung ins Ironische so, dass sie zwei Stunden lang ohne Pause die Lieder der Bewegung sangen und in Siegheilrufe ausbrachen, sodass Baldur, nachdem er zwei Stunden lang auf dem Rednerpodium abgewartet hatte, endlich wieder nach Hause fuhr, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben.“ Erich Kästner, Das Blaue Buch, 23.01. 1941
„Was es in den letzten Monaten wirklich im Überfluss gab waren: Sekt, Hummern und Orchideen. Sekt gibt es zur Zeit so wenig wie nie früher. Orchideen gibt es aber noch.“ Das Blaue Buch, 13.5.1941
Jeden Tag gibt es Situationen, wo einen die Unsinnigkeit der Situation geradezu platt drückt, als würde man von einem idiotischen Riesen wie eine Blume gepresst. Da sitzen die verantwortlichen Leute irgendwo zusammen, (…) wissen, dass es keinen siegreichen Ausweg gibt, und warten, in der Nase bohrend, dass eine deutsche Stadt nach der anderen in ein Pompeji verwandelt wird.“ Das Blaue Buch, 12.08.1945
„In Ketzin sollen Flüchtlinge untergebracht werden. Aber es scheinen sich schon viele zu sträuben. Ebenso ist es mit der Rücksichtnahme auf Amputierte in überfüllten Verkehrsmitteln. Die Geduld der Menschen beginnt sich nun doch wohl zu erschöpfen. Schade, dass sich diese Erschöpfung gegen die Schwachen äußert.“ Das Blaue Buch, 27.02.1945
Dann, in den letzten Kriegstagen:
„Erster Mai! Dicker Schnee! Die Blumen sind zugedeckt. Die rosa Apfelblüten schauen aus dem Schnee heraus wie Erdbeeren aus der Schlagsahne. Himmler verhandelt mit Bernadotte über die Kapitulation. Hitler soll im Sterben liegen. Göring soll mit Spielzeug spielen und brabbeln. München scheint sich völlig ohne Kampf ergeben zu haben. Die Amerikaner stehen bei Mittenwald.“ Das Blaue Buch, 1.5.1945
„Die Amerikaner sehen alle aus wie Schlosser oder Boxer. Aus Los Angeles, aus Chicago usw. Einer warf eine kaum angerauchte Chesterfield in den Dreck. Das imponierte allgemein.“ Das Blaue Buch, 5.5. 1945
Und, einen Tag bevor der Krieg mit der Kapitulation Deutschlands endete:
„Die Russen melden, man habe in Berlin die Leichen von Goebbels, seiner Frau und seinen Kindern gefunden. Die Maikäfer flattern gegen das erleuchtete nächtliche Fenster.“ Das Blaue Buch, 7.05.1945
Am 29. Juli 1945 spricht Kästner lange mit einem Besucher, einem „in amerikanische Uniform gesteckten“, dem KZ entkommenen Häftling, Männe Kratz. Er hat Auschwitz, Ebensee und Melk überlebt und berichtet Kästner bis ins Detail von den Abläufen in Auschwitz, den Massenvergasungen, den Häftlings-Sonderkommandos, den Selektionen, den medizinischen Experimenten – Kästners Tagebuch bricht mit dem Eintrag über diese Begegnung unvermittelt ab.
Auch wenn Kästner es nicht vermochte, aus dem „Blauen Buch“ nach dem Krieg ein durchgearbeitetes Werk zu schaffen – als Zeitdokument ist es eindringlich und überaus wertvoll.