Überleben … oder lebendig Leben (Teil 2)

Hier und in unserer aktuellen Podcast-Folge möchten wir weitere Aspekte der Arbeit von Daniel Schmachtenberger und dem Consilience Project herausgreifen – insbesondere zum Leitartikel über das „Konzept des Fortschritts“ vom Sommer 2024. Den Artikel gibt es, wie wir schon an anderer Stelle geschrieben haben auch auf Deutsch.

Noch immer leben wir in dem gängigen Narrativ, Fortschritt sei gleichbedeutend mit Verbesserung, und die Welt werde für alle besser, wenn BIP und Wirtschaft weiter wachsen. Diese Überzeugung ist tief in unseren Institutionen und in unserer Politik verankert, wir hinterfragen kaum die Notwendigkeit anhaltenden Wachstums auf Kosten der Natur und des menschlichen Wohlbefindens, des Wohlergehens allen Lebens auf der Erde. 

Das Fortschrittsnarrativ ist durch und durch anthropozentrisch – nichtmenschliches Leben auf der Erde wird immer mehr zerstört – und kolonial, Menschen in ärmeren Ländern werden durch die externen Effekte des Fortschritts fast ausschließlich geschädigt.

Unser aktuelles Fortschrittsverständnis ist unausgereift und unvollständig. Fortschritt, wie wir ihn heute definieren, ignoriert oder verharmlost das Ausmaß seiner Nebenwirkungen. Diese Nebenwirkungen (oder Externalitäten) treten in einer komplexen Kaskade auf und verteilen die Schäden oft zeitlich und räumlich.

Die Zweit- und Drittwirkungen unseres Handelns in der Welt lassen sich nur schwer ihrer ursprünglichen Ursache zuordnen und sind oft bedeutsamer, als uns bewusst ist. Mit zunehmender Leistungsfähigkeit der Technologie werden ihre Auswirkungen auf die Realität immer gravierender.

Wie können wir diese Dynamik verändern, um eine neue, ganzheitliche Definition von Fortschritt zu entwickeln, die die Verbindung unseres Planeten mit der Gesundheit unseres Geistes, Körpers und unserer Gemeinschaften berücksichtigt?

Damit Veränderung Fortschritt bedeutet, muss sie dessen externe Effekte systematisch identifizieren und so weit wie möglich internalisieren.

Im Artikel des Consilience Project gibt es zahlreiche Beispiele für Fortschritt, der seine vielen externen Effekte ignoriert. Um nur einige zu nennen:

– Der Einsatz von Pestiziden und Herbiziden ermöglichte einen enormen Anstieg der Getreide- und Gemüseernten – jedoch mit einer Vielzahl negativer Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit.

– Schwermetalle wie Blei sind für unsere Maschinen und Geräte unverzichtbar – reichern sich aber im Boden und dann in unserem Gemüse und Getreide an, mit schädlichen Auswirkungen auf unsere Gesundheit.

­­– Ultraverarbeitete Lebensmittel ermöglichen eine lange Haltbarkeit, werden aber mit einem enormen Anstieg von Fettleibigkeit bei Verbrauchern in Verbindung gebracht.

­– Mikroplastik ist allgegenwärtig: sogar in unseren Gehirnzellen – wir kennen seine Auswirkungen auf uns noch nicht.

­– Die Entstehung von Antibiotikaresistenzen in der intensiven Tierhaltung ist alarmierend und gefährlich.

– PFAS (Per- und Polyfluoralkyl -Substanzen) sind sehr nützlich in wasserdichten Textilien, Antihaft-Pfannen und einigen Feuerlöschschäumen und werden oft als „ewige Chemikalien“ bezeichnet. Die externen Auswirkungen von PFAS sind jedoch mit zahlreichen biologischen Schäden verbunden, darunter Störungen des Herz-Kreislauf-, Hormon- und Fortpflanzungssystems sowie Leberfunktionsstörungen und ein erhöhtes Krebsrisiko. 

Eine Studie geht davon aus, dass die Entfernung nur einer kleinen Untergruppe von PFAS-Chemikalien aus der Umwelt etwa das Siebentausendfache des jährlichen globalen BIP kosten würde. PFAS sind mittlerweile überall zu finden, auch in den unberührtesten Teilen der Erde. 

Es ist auch wichtig zu beachten, dass im Verlauf der Evolution diese Substanzen nicht in der Umwelt waren. In der Biosphäre, die intelligentes Leben hervorbrachte, gab es keine synthetischen Chemikalien, und keine Schwermetalle, die nicht in den tiefen geologischen Schichten geborgen waren.  

Die folgenreichsten und schwierigsten Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind unbeabsichtigte Folgen menschlicher Versuche, andere Probleme zu lösen; sie werden nicht durch unsere Unfähigkeit verursacht, unsere Ziele zu erreichen – sie sind eine direkte Folge unserer Zielstrebigkeit.

Technologien verändern unsere bestehenden Wertesysteme. Es kommt häufig vor, dass die Werte, die am Anfang der Entwicklung einer Technologie standen, sich im Verlauf der Nutzung wandeln – oder gar in ihr Gegenteil verkehren.

Fortschritt am Beispiel sozialer Medien 

So bestand am Anfang der Entwicklung sozialer Medien (abgesehen vom Geldverdienen) die Hoffnung, Menschen einander näherzubringen und allen Menschen Zugang zu allen Arten von Informationen zu ermöglichen – etwas, das teilweise wahr geworden ist. 

Doch Studien zeigen, dass Menschen, die soziale Medien häufig nutzen, sich isolierter fühlen als Menschen, die dies nur gelegentlich tun.

Die Smartphone-Technologie hat massive Auswirkungen auf den menschlichen Geist und das menschliche Verhalten gezeigt. Nicht gewollte Folgen sind unter anderem die Verringerung der Aufmerksamkeitsspanne, Desinformation, Meinungsmanipulation, Wahlbeeinflussung, politische und soziale Polarisierung, Verlust von Privatsphäre, extreme Datenerfassung, psychologische Kriegsführung – und vieles mehr.

Keiner dieser externen Effekte war beabsichtigt, aber die Social-Media-Unternehmen wählten von Anfang an einen Weg, der es ihnen ermöglichte, die Gewinne dieses Modells zu privatisieren und die Schäden zu externalisieren, d.h. auf die Allgemeinheit abzuwälzen. 

Fortschritt am Beispiel der globalen Zunahme der Lebenserwartung 

Menschen, die das Fortschritts-Narrativ vertreten, führen insbesondere die gestiegene Lebenserwartung als Beispiel dafür an, dass unser Leben besser geworden ist. Aber ist das wirklich eine reine Verbesserung? 

„Während die Lebenserwartung in den letzten zweihundert Jahren des industriellen Wachstums gestiegen ist, haben wir gleichzeitig die Umwelt vergiftet, unzählige andere Arten ausgerottet und die unnatürliche Krankheitslast weltweit enorm erhöht.“ Consilience Project

Gerade ältere und alte Menschen erleben oft tiefe Einsamkeit, Sinnlosigkeit und existenzielle Leere. Wäre die Zivilisation tatsächlich vergleichsweise besser geworden, würde die Lebenslust der Menschen höchstwahrscheinlich zunehmen, nicht abnehmen. Das Alter ist oft keine gute Perspektive, Menschen fürchten ein langsames Ende im Pflegeheim.

In den USA nimmt ein durchschnittlicher Mensch über 60 heute jährlich fünfzehn verschreibungspflichtige Medikamente ein. Viele dieser Medikamente haben eine Reihe schädlicher Nebenwirkungen – sowohl für den Patienten selbst als auch für die Umwelt.

Historisch gesehen ist dies kein typischer Endzustand menschlicher Erfahrung. Es war in der längsten Zeit menschlicher Entwicklung nicht normal, dass ein zunehmender Anteil älterer Menschen seine durch medizinischen Fortschritt verlängerte Lebenszeit depressiv und allein verbringt, fern von der Familie, ohne Aufgaben, ohne Sinn-Erleben. 

Echter Fortschritt

Fortschritt, der wirklich zu mehr Verbesserung und mehr Güte in der Welt führt – muss auch dann noch als „gut“ gelten können, wenn er alle Perspektiven und externen Effekte berücksichtigt.

Das würde zum Beispiel für die Sozialen Medien bedeuten, einige zentrale Designmerkmale so zu ändern, dass konstruktive, Verbindung stiftende Interaktionen gefördert werden ­­– was technisch leicht umsetzbar und für alle Menschen förderlich wäre, aber den Social-Media-Unternehmen womöglich nicht die bisherigen Gewinne verschaffen würde. 

Die Minimierung negativer externer Effekte von Technologien würde eine sicherere, gesündere und letztlich bessere Welt für alle heute Lebenden und für kommende Generationen schaffen, die das erben werden, was wir ihnen hinterlassen.

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