Sebastian Haffner, 1907 in Berlin geboren, war Journalist, Publizist, Historiker und Schriftsteller. Während des Zweiten Weltkriegs begann er im britischen Exil für den „Observer“ zu schreiben. In den 1950er Jahren kehrte er nach Deutschland zurück. Vor allem seine Schriften über Adolf Hitler und den Nationalsozialismus haben nachhaltige Aufmerksamkeit erhalten. Wir wollen hier nicht näher auf seine Biografie eingehen, sondern einfach nur aus seinem Buch „Geschichte eines Deutschen“ zitieren, (englischer Titel „Defying Hitler: A Memoir“) weil er einen so brillanten rhetorischen Stil hatte – und weil viele seiner Beobachtungen frappierend an die heutige (welt-)politische Situation erinnern.
Das Manuskript der „Geschichte eines Deutschen“ hatte Haffner bereits 1939 im englischen Exil geschrieben, es wurde aber erst nach seinem Tod im Nachlass entdeckt, und posthum (2000) veröffentlicht. Haffner analysiert die Entwicklung Deutschlands zwischen 1914 und 1933, verbunden mit seinen persönlichen Erfahrungen und Eindrücken in dieser Zeit.
Aufgrund der vielen eingetroffenen Vorhersagen – selbst Hitlers Selbstmord hatte Haffner prognostiziert – zweifelten Historiker das Entstehungsjahr des Manuskriptes an, diese Zweifel wurden jedoch widerlegt.
Sebastian Haffner beschreibt die Wirkung Hitlers „wie die Hypnose seines Publikums, das dem Zauber des Ekelhaften und dem Rausch des Bösen immer widerstandsloser erlag.“
„Von dem, womit ich im Begriff war konfrontiert zu werden, hatte ich bestenfalls einen warnenden Geruch in der Nase; aber ich besaß keine Begriffswelt, in der es unterzubringen gewesen wäre.
Haffner schreibt: „Von den bestehenden politischen Parteien zog mich keine besonders an, so groß die Auswahl war. Allerdings hätte mich auch, ut exempla docent, die Zugehörigkeit zu keiner davor geschützt, ein Nazi zu werden. Was mich davor schützte, war – meine Nase. Ich besitze einen ziemlich ausgebildeten geistigen Geruchssinn, oder, anders ausgedrückt, ein Gefühl für die ästhetischen Valeurs (und Non-valeurs!) einer menschlichen, moralischen, politischen Haltung oder Gesinnung. Den meisten Deutschen fehlt leider das gerade vollständig. Die Klügsten unter ihnen sind imstande, sich mit lauter Abstraktionen und Deduktionen vollständig dumm zu diskutieren über den Wert einer Sache, von der man einfach mittels seiner Nase feststellen kann, daß sie übelriechend ist.
Ich meinerseits hatte schon damals die Gewohnheit, meine wenigen feststehenden Überzeugungen vermittels meiner Nase zu bilden. Was die Nazis betraf, so entschied meine Nase ganz eindeutig. Es war einfach ermüdend, darüber zu reden, was unter ihren vorgeblichen Zielen und Absichten etwa doch diskutabel oder wenigstens »historisch gerechtfertigt« sei, da das Ganze so roch, wie es roch. Daß die Nazis Feinde seien – Feinde für mich und für alles, was mir teuer war – darüber täuschte ich mich keinen Augenblick. Worüber ich mich freilich vollkommen täuschte, war, wie furchtbare Feinde sie sein würden. Ich neigte damals noch dazu, sie nicht ganz ernstzunehmen – eine verbreitete Haltung unter ihren unerfahrenen Gegnern, die ihnen viel geholfen hat und heute noch hilft.“
März 1933
„Vier Dinge brachte dieser März (1933), als deren Ergebnis schließlich die unangreifbare Nazi-Herrschaft dastand: Terror; Feste und Deklamationen; Verrat; und schließlich einen kollektiven Kollaps – einen millionenfachen simultanen individuellen Nervenzusammenbruch.
Viele, ja die meisten europäischen Staatswesen sind blutiger geboren worden. Aber es gibt keins, dessen Entstehung in diesem Maße ekelhaft war.“
„Der einfachste Grund, und fast überall, wenn man bohrte, der innerste, war: Angst. Mitprügeln, um nicht zu den Geprügelten zu gehören. Sodann: ein wenig unklarer Rausch, Einigkeitsrausch, Magnetismus der Masse. Ferner bei vielen: Ekel und Rachsucht gegenüber denen, die sie im Stich gelassen hatten. Ferner, eine seltsam deutsche Figur, dieser Gedankengang: »Alle Voraussagen der Gegner der Nazis sind nicht eingetroffen. Sie haben behauptet, die Nazis würden nicht siegen. Nun haben sie doch gesiegt. Also hatten ihre Gegner Unrecht. Also haben die Nazis Recht.«
„Man begann mitzumachen – zunächst aus Furcht. Nachdem man aber einmal mitmachte, wollte man es nicht mehr aus Furcht tun – das wäre ja gemein und verächtlich gewesen. So lieferte man die zugehörige Gesinnung nach. Dies ist die seelische Grundfigur des Sieges der nationalsozialistischen Revolution.“
Das Seltsame und Entmutigende freilich war, daß – jenseits des ersten Schreckens – diese erste großzügige Bekundung einer neuen Mordgesinnung in ganz Deutschland eine Flut von Unterhaltungen und Diskussionen entfesselte – nicht etwa über die Antisemitenfrage, sondern über die »Judenfrage«. Ein Trick, der den Nazis seither auch in vielen anderen »Fragen« und in internationalem Maßstabe geglückt ist: Indem sie irgend jemand – ein Land, ein Volk, eine Menschengruppe – öffentlich mit dem Tode bedrohten, brachten sie es zustande, daß nicht ihre, sondern seine Lebensberechtigung plötzlich allgemein diskutiert – d. h. in Frage gestellt wurde.
Jeder fühlte sich auf einmal bemüßigt und berechtigt, sich eine Meinung über die Juden zu bilden und sie zum besten zu geben. Man machte feine Unterscheidungen zwischen »anständigen« Juden und anderen; wenn die einen, gleichsam zur Rechtfertigung der Juden – Rechtfertigung wofür? wogegen? – ihre wissenschaftlichen, künstlerischen, medizinischen Leistungen anführten, warfen die anderen ihnen gerade dies vor: Sie hätten Wissenschaft, Kunst, Medizin »überfremdet«. Überhaupt wurde es schnell allgemein üblich und populär, die Ausübung anständiger und geistig wertvoller Berufe den Juden als Verbrechen oder zum mindesten als Taktlosigkeit anzurechnen. Man hielt den Verteidigern der Juden stirnrunzelnd vor, daß die Juden aber, höchst verwerflicherweise, einen so und so hohen Prozentsatz der Ärzte, Rechtsanwälte, Presseleute usw. stellten. Man liebte überhaupt, die »Judenfrage« mit Prozentrechnung zu entscheiden.“
Eine Lüge, die oft genug erzählt wird, wird irgendwann zur Wahrheit. Joseph Goebbels (wahrscheinlich fälschlicherweise) zugeschrieben
Ein letztes Zitat von Haffner darüber, was passiert, wenn die grundlegende zwischenmenschliche Solidarität zerstört wird: „Nun ist es wohl heute keinem mehr zweifelhaft, daß in Wahrheit der nazistische Antisemitismus so gut wie nichts mit den Juden, ihren Verdiensten und Fehlern, zu tun hat. Das Interessante an der nachgerade nicht mehr verheimlichten Absicht der Nazis, die Deutschen dazu abzurichten, daß sie die Juden über die ganze Welt hin verfolgen und möglichst ausrotten, ist nicht die Begründung, die sie dafür geben – die ist so unverblümter Nonsens, daß es eine Selbsterniedrigung bedeutet, sie auch nur bekämpfend zu diskutieren – sondern eben diese Absicht selbst. Sie nämlich ist etwas tatsächlich weltgeschichtlich Neues: der Versuch, die Ursolidarität jeder Tiergattung untereinander, die sie allein zum Überleben im Existenzkampf befähigt, innerhalb des Menschengeschlechts außer Kraft zu setzen, die menschlichen Raubtierinstinkte, die sich sonst nur gegen die Tierwelt richten, auf Objekte innerhalb der eigenen Gattung zu lenken, und ein ganzes Volk wie ein Rudel Hunde auf Menschen »scharf zu machen«.
„Ist erst einmal die grundsätzliche immerwährende Mordbereitschaft gegen Mitmenschen geweckt und sogar zur Pflicht gemacht, so ist es eine Kleinigkeit, die Einzelobjekte zu wechseln. Schon heute zeigt sich ziemlich deutlich, daß man statt »Juden« auch »Tschechen«, »Polen« oder irgendetwas anderes setzen kann. Worum es sich hier handelt, ist die systematische Impfung eines ganzen Volkes – des deutschen – mit einem Bazillus, der bewirkt, daß die von ihm Befallenen gegen Mitmenschen wölfisch handeln; oder, anders ausgedrückt, die Entfesselung und Hochzüchtung jener sadistischen Instinkte, deren Niederhaltung und Abtötung das Werk eines vieltausendjährigen Zivilisationsprozesses war.“
